Verkehr
…ist ja an und für sich nicht schlechtes. In Öffis, Supermarktgängen oder auf der Straße kann Verkehr allerdings ganz schön ungemütlich werden. So geschehen letztens: Verkehrstechnisch gewappnet, voller Vertrauen in die Zurechnungsfähigkeit, das Verständnis und das Zuvorkommen der Menschheit im Allgemeinen, die mit mir in den Stromschnellen des morgendlichen Berufsverkehrs dahin fetzen, trage ich mein Fahrrad die Kellerstufen hoch. Gleiten wäre mir lieber. Da spricht das verträumte, auf Verzögerung der Zeit hoffende Einhorn in mir. Ich starte in den Tag, radle los. Tiefe Stirnfalten, wildes Gestikulieren und für mich tonlose Gebärden gegen Freisprecheinrichtungen blitzen zwischen getönten Scheiben in der sanften Morgenröte und dem aufsteigendem Nebel über taugeküsstem Grasgrün von Verkehrsinseln entgegen. Lauter beschäftigte, wenig gegenwärtige Menschen wohin ich schaue. Der Helm blitzeblank und tief in meiner, beim Kopf gen Schlüsselbein senken sich ergebende Doppelkinnfalte festgezurrt, voller Freude für den Tag in die Pedale tretend.
Da kommt sie wieder die mir zu gut bekannte, kleine Passage, die ich entgegen gängiger Vorschriften der StVo. für eine Distanz von ca. zehn Metern via Gehsteig passieren muss. Die Straße ist an dieser Stelle furchtbar eng und eigentlich nicht vorhanden, sondern Harrod’s-ähnlich mit Straßenschildern verschmückt (Ich weiß, dass es geschmückt hieße, aber mir gefällt das so viel besser, weil’s das Gesehene, besser vorstellbar macht). Ich sehe die Tiefgarageneinfahrt vor mir, die zu Büroarbeitsplätzen belaptopter Businessmenschen, gehetzter Anzugträger und damenkostümierter Buchhalterinnen führt. Ich werde langsamer, schwinge das rechte Bein über die Mittelstrebe vom Rad, tendiere zum Absteigen, blinzle kurz in die Morgensonne und freue mich auf meinen nächsten tiefen Atemzug bevor ich endgültig stehen bleibe. Ganz. Ich stehe. Ja. Ich stehe. Wie bei Stop, also ohne Bewegung. Damit diese Betonung noch mal ganz klar für sich alleine steht. Ein mittelalterlicher Anzugsträger mit Stern auf der 1985er Karre in gold metallic bremst sich fast die Felgen aus den Achsen.
Foto Theresa Pewal Artist Portraits
Der wutentbrannte Kerl lässt die Fahrerscheibe hinunterfahren – nein er kurbelt sogar, was der situativen Dramatik ja echt noch einen Tick mehr Pfeffer verleiht – und brüllt hasserfüllt in meine Richtung. Piep-Geräusche würden an dieser Stelle als Audiospur über seinen wenig freundlichen verbalen Glanzmoment gelegt werden, wäre das hier eine TV-Show, nachmittags mit mittelgradig bis niedriger journalistischer Qualität und gesellschaftlichem Relevanzgrad. Der detaillierte Wortlaut spielt hier wenig Rolle, zumal ich bei Schreiattacken wie dieser grundlegend auf Durchzug schalte. Schreien ist Ausdruck der Überforderung. Kenne ich von mir. Schreien= ins schwarze Treffen, mit eigenen Konflikten so überfordert sein und den anderen verantwortlich zeichnen. Herrlich. Das kleine Äffchen in meinem Honigtopf-Kopf läuft in seinem Pagenkostüm im Kreis, während es das kleine Becken in seinen Händen taktvoll aneinander schellen lässt (vgl. Brahms – Brahms – Symphony No. 4 in E-Moll, Op. 98 ab Minute 11 – da wird’s besonders dramatisch).
Ein bisschen Kaufhausmusik und das nette Vogelgezwitscher aus der Umgebung lasse ich doch noch meinen selektiven Audiofilter passieren. Wow, der olle Schnautzbart-Pete ist ganz schön aufgeregt. Wenn ich das Muskelwechselspiel von Anspannung und noch mehr Überspannung seiner oralen Gegenden korrekt interpretiere – denn in Lippenlesen bin ich wahrlich keine Meisterin – wiederholt er oft die Information, ich sei der dümmste Mensch auf Erden oder so. Und was ich mir nicht erlaube hier am Gehsteig herumzufahren. Der Rest wird wieder durch mein süßes Gehirnfasching-Äffchen unterbrochen. Lustig und erfrischend. Hach, Giacciomo würde ich ihn nennen, entertainte er mich auch real nach arbeitsträchtigen Montagen oder brächte mir einen erfrischenden Martini. Nur hinterlistig sollte er nicht sein. Und bitte auch kein Taschendieb. Also sollte ich Giacciomo lieber nicht aus Taschendiebregionen adoptieren. Der Bart kräuselt sich förmlich nach oben, so garstig artikuliert der energetisch stark überspannte Mann; sogar ein bisschen Spuke kommt mit, ein paar Fäden jedenfalls (Ich wollte Schaum schreiben, aber das liest sich dann doch zu dramatisch). Fühlt er sich doch noch mehr gereizt durch meinen nonverbalen Namaste-move.
Ja richtig gelesen, statt meiner üblichen Schockstarre, wandte ich wie durch Zauberhand heute mal eine neue Bewältigungsstrategie an. Ich verbeugte mich vor ihm und sagte kein Wort. Die Knie waren zur Abwechslung mal nur ein bisschen weich, nicht wie sonst kurz vor dem Kollaps in Situationen die mich glauben lassen, ich habe einen Fehler gemacht. Mehr als links und rechts schauen, kontrolliert anhalten und eh-ein-schlechtes-Gewissen-haben wegen dem baustellenbedingten Ausweichmanöver kann ich dann aber echt auch nicht mehr machen, um mich StVO-konform zu verhalten. Die Verbeugung war ernst gemeint. Keine Provokation. Ich atme tief durch. Das bringt ihn richtig auf die Palme. Aha. „Seltsames Reaktionsmuster für eine respektvolle Geste“, denke ich. Ich überlege, ihm noch eine Friedensgebärde zu entgegnen (#peace), lasse aber die Hände langsam wieder sinken, da ich fürchte er fiele mich sonst direkt von der heruntergelassenen Scheibe über den Gehsteig her an. Die Speichelfäden sind nämlich mehr geworden; die Lautstärke blieb gleich war sie doch nicht mehr steigerbar.
Mhmhm. So stehe ich hier und merke erstmalig in meinem Leben, dass der fiese Schmerzkloß um meinen Kehlkopf, der sich für gewöhnlich seit Kindertagen bei Schreiattacken diesen Levels deutlich bemerkbar macht und noch heute pawlow’sch-rasant aktiviert wird, gar nicht so notwendig ist. Für gewöhnlich schießt der Befehl „Wassermarsch“ über mein neuronales Netzwerk mit voller Wucht (#arschbombe) in Richtung Tränendrüsen. Ich plärrte für gewöhnlich, weil ich ja eh nix falsch machen möchte und keinem zur Last fallen. Aber heute ist das anders. Der Körper vibriert auch nur minimal, wurde diesmal doch weniger Adrenalin aus der Nebennierenrinde ausgeschüttet.
Bravo, Lady Cupcake. Sehr gute Weiterentwicklung. Was der olle Schnautzbart-Pete offenbar nicht mitbekommen hat, ist mein blitzeblanker Helm, der tief in meiner, beim Kopf gen Schlüsselbein senken sich ergebende Doppelkinnfalte festgezurrt ist sowie mein voller Lebensfreude in die Pedale tretendes, StVo konformees Verhalten. Da kann wohl keiner was dafür. Was ich wiederum nicht wissen kann ist, dass ihn der fürchterliche Streit mit seiner ältesten Tochter gestern Abend völlig aus der Fassung gebracht hat. Sie lädt ihn nicht zur Hochzeit ein und wünscht ihm nur das Schlechteste. Wahrlich keine schöne Sache. Oder, dass der erst seit zwei Jahren im wichtigen Bürogebäude tätige, belaptopte, belackschuhte und eigentlich noch pubertierende BWL-Student die seiner Ansicht nach ihm zustehende Beförderung zugesagt bekommen hat. Mit € 1,99 Piccolo haben sie anstoßen müssen gestern um 16 Uhr. Und sich scheinheilig wiederwillig die Hand reichen und nebeneinander am Foto stehen und seine eye-to-eye Blitze musste er möglichst gekonnt kaschieren. Oder vielleicht war vorgestern einfach die Untersuchung beim Urologen ein bisschen haarig. Alles nur Spekulationen und Verstehenshypothesen.
Ich rase ja so durch meine eigene Ideologie von Realität, dass ich nur schwer die vom Schnautzbart-Pete ergründen kann. Die Dinge sind meist nicht wie sie scheinen. Und wenn diese Brülltirade zumindest dazu gut war seine negative Energie zu entladen, dann bitte gerne. Jederzeit. Bevor du den belackschuhten BWL Jungspund eine G’nackwatschn verpasst, oder deiner Tochter auch eine Todeswunschnachricht auf der Mailbox hinterlässt, deine Frau wieder verprügelst oder die Katze vom Urologen massakrierst, weil er bei der Untersuchung doch den einen Finger zuviel verwendet hat. Ich weiß nicht was dich bewegt. Ich weiß nicht was dich so wütend macht. Muss ich auch gar nicht. Wir Menschen machen verrücktes Zeug. Ich jeden Tag. Jedenfalls bin ich froh, dass mein pawlow’scher Reflex reduziert ist. Ein echter Erfolg. Zumindest dafür war unsere Begenung gut. Also indirekt: Danke dafür! Ich nehme hier einfach meine Ohnmacht aus der Situation und sag ehrlich Danke. Denn indirekt ist dir ja hoffentlich nicht nur der Schutz deiner gold metallic Karre wichtig, der bei meinem ungraziösen Ritt über deine Motorhaube im Falle meines tatsächlich ausbleibenden Stehenbleibens nicht mehr gegeben gewesen wäre, oder deine abgelaufene Versicherung – sondern mein Leben.
Auch alles nur Vermutungen. Bitte sag in Zukunft einfach was du wirklich denkst. Ich kann nichts dafür, wenn du früh morgens an Einfahrten still stehende, dich beobachtende, achtsame und am Einfahren nicht behindernde Verkehrsteilnehmer auf zwei Rädern nicht wahrnimmst. Behalt dir deinen Frust und such dir konstruktive Wege zur Bewältigung (Coping). Das geht zum Beispiel HIER, HIER, HIER oder HIER. Mehrjährige Psychotherapieeinheiten wirken auch Wunder. Auch das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Nähere dich dir selbst. Spread love not hatred! Alles Liebe – Lady Cupcake!
PS: Liebe Grüße an dich, Schnautzbart-Pete!
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