Lange Zeit meines Lebens dachte ich: „Wer bist du ohne Leistung? Wer bist du ohne Angst?“ Ich erschrak über die billige Kopie; die kahle Stelle, die übrig blieb, da wo vorher so ein großes, aufgeblasenes Ego sinnbildlich in Form eines massiv arbeitenden Ackergauls war. Ich fühlte mich wie nichts. Ich dachte es bliebe nichts übrig, wenn ich nicht immer die Normen einhalte. Wenn ich nicht allen Ansprüchen meiner Mitmenschen 1:1 entspräche. Egal wie viele es parallel waren oder wie kontroversiell.
Ich blieb immer schön angepasst, immer im Hintergrund, die Klappe haltend, egal wie groß die Spannungen bei den verbal aggressiven, teils zu körperlicher Gewalt an Mensch und Tier ambitionierten Menschen waren. Spannungen aushalten konnte ich immer gut. Ich war immer das Mädchen fürs Grobe. Wie das so ist mit Spannungen, muss Energie sich irgendwann wieder in neue Richtungen verflüchtigen. Denn ein lebenslanger Zustand wie dieser ist weder feinstofflich noch biochemisch vertretbar. Vergleichbar ist dieser Zustand mit einem Drahtseil, dass bei Überspannung durch zu viele Windungen dazu verdammt ist zu reißen.
Foto Theresa Pewal Artist Portraits
Als die Angst meine Welt zum Einsturz brachte
Ich werd ihn nicht mehr vergessen, den 8. November 2011. Ich war mit einer Freundin in der Londoner U-Bahn. (An dieser Stelle wechsle ich aus Gründen der besseren Vorstellbarkeit in die Gegenwart.) Da ist er, dieser Gedanke, der sich aus dem Hinterhalt mit einer gefühlten Tonne Gewicht über mich; meinen ganzen Körper wirft. Mir bleibt die Luft weg. In meinem Kehlkopf fühle ich sich meinen Herzschlag wild umher pochen, was es unmöglich macht das aktuelle Geschehen in Worte zu verpacken. Angepasst wie ich bin, blicke ich mit weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen ins U-Bahn Abteil. Die zivilisierten Londoner starren schläfrig-stockstarr in ihre Morgenzeitung. Ich schaue mich um. Gut, niemand merkt was gerade in mir vorgeht. Mein chamäleonartiger Tarnmodus scheint einmal mehr Wirkung zu zeigen. Dieser schreckliche Gedanke wird immer lauter, sodass ich mich selbst weder atmen noch denken hören kann: „Ich werde sterben.“ Meine Hände zittern wie bei einem akut niedrigen Blutzuckerspiegel. Das kann aber nicht sein, wir haben vor 1,5 h erst gefrühstückt. Was passiert hier? Vor meinen Augen beginnen schwarz-weiße Pünktchen zu tanzen. Alles wird schummrig. Die Hitze steigt mir in die Knie. Ich glaube umgehend zu stürzen. So weiche Knie müssen nachgeben. Es gibt keine andere Option. „Soll ich um Hilfe bitten? Nein, so arg ist es doch nicht. Ich halte das aus.“
Ist es doch eine Sache des Kreislaufs? Seltsam – ich falle nicht. In meinen Wachstumsphasen hatte ich häufig Kreislaufbeschwerden. Der Zustand war vergleichbar, wenngleich weniger akut bedrohlich als dieser jetzt. Wäre es eine Sache des Kreislaufs, wäre ich schon längst in horizontaler Position. Kreislaufkollaps ausgeschlossen. Der Schweiß, den ich seit Minutenhoch 10 absondere, scheint sich in meinen Schuhen zu stauen. Ich versuche mich gegenüber meiner Freundin zu artikulieren. Ich kann nicht sprechen. Mein Puls beschleunigt sich erneut. „Habe ich einen Schlaganfall?“ Mir fällt die englische Übersetzung stroke ein, nicht aber das deutsche Wort. „Was passiert hier? Was passiert mit mir?“ Ein unglaublicher Druck macht sich im Brustkorb breit. So stelle ich mir den Moment bei einer Herz O.P. vor, wenn der Brustspreitzer zum Einsatz kommt. Nur ohne Narkose. Eine nahezu lautlose Schnappatmung durch den Mund setzt ein. Angepasst wie ich bin, kaschiere ich all das und leide in mich hinein. Das darf niemand merken. Der belastbare Ackergaul macht hier keine Szene während des Millionenschweren Londoner Frühverkehrs. „Kein Drama! No way!“ Aber in Wahrheit bin ich verzweifelt. Wir steigen aus. Ich höre meine Freundin den Plan für den heutigen Tag wiedergeben: London Eye, Big Ben, Madame Tussaud’s. Sehr dumpf und weit weg hört sich das alles an. Bin ich denn noch hier oder eh schon weg? Ich zwicke mich in den Arm, um zu checken, ob ich den Schmerz fühle. Angenehm ist der im Vergleich zum eben Geschehenen. „Schauen wir mal, ob ich mich heute überhaupt noch bewegen oder artikulieren kann.“
Ich merke wie der Druck im Brustkorb weniger wird. Ich versuche die vom Schweiß durchnässten Kleidungsstellen zu verstecken. Der kühle Wind in der U-Bahn lässt mich erschaudern. Die Atmung wird ruhiger. 20 Minuten Wahnsinn scheinen wie durch Zauberhand zu enden. Ich beginne wieder Ich zu sein nach dieser Totenstarre von eben, wofür ich dankbar bin. Die Totenstille im U-Bahn Abteil, hat eine Lawine aus Ängsten über meine eigene Vergänglichkeit losgetreten. Das glaube ich in diesem Moment. Erst Jahre später begreife ich, dass dieser Moment der letzte Kieselstein war. Denn Konstruktion einer Hulk artig angewachsenen Angststörung dauert Jahrzehnte. Ich beginne wieder durch die Nase zu atmen. Meine Freundin fragt, ob es mir gut gehe. Ihr falle erst jetzt auf wie blass ich wäre. Ich lächle – wie ich das immer tue, selbst wenn ich kurz vor dem absoluten emotionalen breakdown stehe – und sage es sei nichts. Wir folgen unserem Tagesplan. Ich bin verwirrt. Besorgt. Habe Angst um mein Leben. Finde keine plausible Erklärung für das eben Geschehene.
Back in time
Heute weiß ich, dass es eine Panikattacke war. Die vielen Symptome – eindeutig. Ein Langzeitkrankenstand, ein mehrwöchiger Krankenhausaufenthalt und viele Jahre Psychotherapie haben mich step-by-step dahin geführt wo mich diese absolut korrekten physiologischen Funktionen hinführen sollten. Ich muss an dieser Stelle wirklich betonen, dass der Körper in solchen Situationen absolut richtig handelt und reagiert. Nur eben in zu hohen Dosen oder für den kognitiven Apparat einfach nicht zuordenbar, was für das gesamte organismische Erleben existenziell bedrohlich wirkt. Alles was nicht zuordenbar ist, macht Angst. Und wenn das Grundmotiv ohnehin schon Angst war, ist klar, dass sich diese ins Unendliche potenziert. Tja, die Symptome kann ich heute gut wahrnehmen. Überhaupt hat sich mein Körperbewusstsein richtig entwickelt und das tut es weiterhin. Ich bin zwar physiologisch gesehen gewachsen, habe aber in frühen Jahren nie wirklich gelernt zu spüren, Gefühle zuzulassen oder eine Verbindung zwischen Gedanken, Gefühlen und Handlungen herzustellen. Als belastbares, kompensierendes, jüngstes Kind ganz schön herausfordernd. Heute liebe ich meinen Körper. Ich kann die Symptome als Warnsignale in negativen Situationen erspüren, aber auch als Marker für besonders schöne Gefühle, Gedanken, Menschen und Situationen wahrnehmen.
Der Gedanke ist immer noch da. „Ich werde sterben!“ Er ist jeden Tag da und hat an Intensität kaum verloren. Interessanterweise wird er immer dann akuter und erstarrender, wenn ich „die falschen Dinge“ tue. Das heißt in meiner Welt: Farben/ gewünschte Verhaltensweisen/ Farbnuancen sozial erwünschter Statuten tragen und annehmen, mich mit Menschen unterhalten, die hoffen, dass ihr Leben schnell vorüber geht (vgl. „Wie lange haben wir noch bis zur Pension?“), negative Kundengespräche, ich zu viel schadhafte Nahrungsmittel (inkl. Alkohol) in mich hinein wuchte u.v.m. Es vergeht meist keine Stunde in der ich nicht mindestens 10 Mal an meine Vergänglichkeit denke. Würde jemand anders mit mir die Rollen tauschen, würde er vermutlich kreischend durch den Raum laufen aus lauter Angst. So ist das mit diesen unsichtbaren Krankheiten und mit dieser Angststörung, die leider nicht mit einer Eisenschiene fixiert werden kann, sodass ein 6-8 wöchiger Heilungsprozess starten könnte.
Es ist wie mit der Ein- und Ausatmung. Ein konditionierter Gedanke, der ständig über mein neuronales Netzwerk läuft. Ich blicke auf meine Hände und sehe sie verwesen. Nur die Knochen sind noch da. Ich gehe laufen, genieße die Sonne, blicke nach oben und frage mich wie selbstverständlich: „Passiert es jetzt? Oder jetzt? Sterbe ich jetzt vielleicht?“ Ich liege in der Badewanne und frage mich, ob 90 cm Breite für meinen Sarg wohl reichen. Dabei bin ich schon lange für eine Feuerbestattung, weil ich darin viel heilsames, reinigendes, desinfizierendes sehe. Und ich hab’s gern warm. 2011 hat mich der Gedanke selbst schon fast umgebracht, weil die Sehnsucht nach Unsterblichkeit meiner Materie so unglaublich groß war. Heute ist der Gedanke ein Geschenk. Es gibt ein Leben vor, während und nach (oder wieder mit) der Angststörung. Soviel ist sicher, falls du auch so ein ängstliches Wesen bist. In den letzten Jahren sind so viele unglaublich großartige Menschen gestorben – oder vielmehr haben sie einfach die Dimension gewechselt, denn Energie kann sich nicht einfach in Luft auflösen. Sie verändert sich. Und das hat wenig mit Ego zentriertem, kapitalistischem Scharlatanismus oder Weihrauchbenebeltem Eso-Getue zu tun.
Wir Menschen vermessen seit Anbeginn unserer kognitiven Leistungsfähigkeit und unserem aufrechten Gang Mensch, Natur und alles Großartige zwischen Himmel und Erde; die Meere, den Horizont, der die Welt umspannt. Energie verschwindet nicht. Wasser kondensiert, steigt auf, wird durch Temperaturgefälle wieder zu Wasser, fällt auf die Erde. Quantenphysikalisch gesehen ist also niemals nichts!
Der Beginn meiner Angst
Ich hatte schon als Kind furchtbare Angst. Ständig war ich besorgt, dass meine Mutter oder einer meiner Brüder nicht mehr nach Hause kämen. So viele schlaflose Nächte habe ich weinend im Bett gelegen, weil mich der Gedanke sie alle Vier niemals wieder zu sehen fast um den Verstand gebracht hätte. Ich liebe sie wirklich sehr. Und zudem gab es auch ausreichend ernsthafte, lebensbedrohliche Momente für meine Mutter und meinen ältesten Bruder, sodass recht rasch klar war, dass dieses ganze Spiel hier nicht durch Ewigkeit geprägt ist. Auch in meiner Pubertät wurde das nicht besser. Versteh mich nicht falsch, ich war kein depressives Kind. Es wurde auch nie etwas diagnostiziert, weil ich all diese Ängste immer für mich behalten habe. Ich war zwar sehr ängstlich und habe den Modus „angepasst und leistungsstark“ zur Sicherung meines Überlebens gewählt.
Dennoch bin ich zeitgleich auch viel in der Natur herumgetobt, hab mit den Nachbarskindern Mila Superstar im Garten nachgestellt bis nur noch Erde blieb, da wo mal prachtvoller Rasen war und sich unser Hund Rex ziemlich verhaltensgestört mitteilte, weil der Ball ab und an halt doch auf sein Hüttchen schmetterte. Ich bin mit den Nachbarjungs in den Wald gefahren und hab im Sommer von Vormittag bis abends um Acht an Lianen geschwungen und herumgetollt. Ich hab musiziert – was immer der Kanal war, um meinen Gefühlen überhaupt mal Ausdruck zu verleihen. Ich hab meine Geburtstage gefeiert: Dafür hab’ ich Medaillen gebastelt, Schnitzeljagden veranstaltet, uns zucker- und kohlensäurehältige Getränke eingeflößt bis uns schlecht war. Danach haben wir Torte gegessen, bis uns wieder schlecht war und danach wiederum haben wir mit allen Baywatch, Dr. Quinn – Ärztin aus Leidenschaft und Mac Gyver geschaut und uns über die Helden unserer Kindheit gefreut. Ich hatte viele unbeschwerte Tage in meiner Kindheit, hatte viele Freunde, auch ein paar dizzer, die mich täglich mit ein paar G’nackwatschen begrüßten, alle drei Wochen wiedermal eine 4- in Mathe und aufgeschlagene Knie vom Rund-ums-Eck-spielen. Alles in allem bin ich also kein schwer traumatisierte Kind, aber eines, dass in Spannungen aufgewachsen ist und einige quasi-Verlustmomente erlebte. Das wollte ich noch mal klar stellen! #novictim Nicht, dass dieser Blogpost hier in eine komplett falsche Richtung ginge. Ich beschreibe hier zwar all das Schwere, aber das heißt nicht, dass da nicht viel Gutes gewesen wäre. Zeitgleich!
Wie zum Beispiel eine unglaublich liebevolle Mutter, die versucht hat uns irgendwie durchzubringen, uns jeden Ski- oder Schulausflug ermöglicht hat; uns gefüttert hat und mich auf alle Fälle gelehrt hat: Egal wie ausweglos die Situation scheint – denk nach, sei kreativ. Es ist niemals nichts. Es gibt immer einen Weg. Und glaub mir in unserem Familienleben gab es – wie bestimmt auch in deinem Leben – schon oft Momente, wo wir/du dachten/ dachtest: „Jetzt ist es vorbei! Das kann man nicht reparieren! Wie soll ich das bloß schaffen? Wie geht es jetzt weiter?“ Und ich liebe diese Eigenschaft in mich aufgesogen zu haben. Ich wurde dafür schon oft als naiv, blauäugig oder verrückt beschimpft. Wenn das so sein soll, dann bitte möge man mich weiteren so bezeichnen. Ich lasse diesen Glauben an das grundlegend Gute und Schöne im Leben keinesfalls fallen.
Mila Superstar-Gang, Lavamünd, 1993
Ich glaube an das Leben…
…und an die vielen Gelegenheiten, die sich darin bieten! Daran, dass das alles – ja, auch die Angststörung, die Panik, das Leid, der Schmerz – irgendwie Sinn machen. Vielleicht seh ich ihn nur jetzt noch nicht. Ich seh‘ unter Umständen das große Ganze noch nicht, weil ich in meinem Mikrokosmos und nahezu mit der Nasenspitze berührend dabei bin, die Mikro-Puzzleteile für mein Jetzt zusammen zu suchen. Es kann gar nicht anders sein. Wozu der stetige Drang in uns Menschen – der Drang in mir – nach Weiterentwicklung, wenn wir eh nur geboren würden, um zu sterben? Ich habe diesen Satz schon so oft gehört, aber noch nie habe ich dessen Bedeutung verstanden. Es liegt doch so viel zwischen Wiege und Grab. Kein einziger Tag ist ohne Lebendigkeit, solange ich sie mir erlaube.
Nichts ist für die Ewigkeit, alles hat ein Ende, ist vergänglich. Aber wenn es ein Fazit gibt, dass ich aus meinem mir tiefgebend infiltrierten Gedanken „Ich werde sterben!“ ziehen kann, dann jenes, dass ich nicht länger Angst vor dem Leben haben möchte. Das ist nämlich der Ursprung aller Angst in mir. Ich war kein Wunschkind. Eher gab es den dringenden Wunsch mich weg-zu-machen. Diese Emotion hat sich pränatal auf mich übertragen. So viel ist der Forschung auch bereits bekannt. Traumata während der ersten neun Lebensmonate im Mutterleib haben Einfluss auf die Konstruktion und Wahrnehmung von Realität. Mehr dazu findest du HIER oder HIER. Diese Urangst, diese existenzielle Bedrohung lies mich immer überkompensierten, mehr arbeiten als andere, so tun als wäre ich begabter als andere, Klugscheißern, soziale Interaktionen vermeiden, weil ich ja leisten, lernen und arbeiten müsse; größenwahnsinnige Heldentaten des Alltages vollbringen. Beispielsweise Schularbeiten für andere schreiben, unmögliche Deadlines für andere einhalten, immer zufällig in der Nähe sein, wenn jemand kollabiert oder Hilfe braucht, all die schweren Emotionen anderer auf mich nehmen und zu viel in mich aufnehmen, den Schmerz der halben Welt tragen. Pffffff. Alles nicht mehr notwendig. Mein Herz schlägt auch so.
Und ich bin tatsächlich für mehr geboren, als lediglich zu leisten und zu dienen. You remember my first lines?„Wer bist du ohne Leistung? Wer bist du ohne Angst?“ Ich will nicht sagen, dass diese Eigenschaften heute kein Teil mehr von mir wären. Der einzige Unterschied ist, dass ich aufgehört habe mein Ego mit dieser Information zu füttern. Stattdessen füttere ich mein Herz mit guten Gedanken und Mantren…und meinen schönen Körper ab und zu mit Sonne, Liebe und Sushi. Wer Angst vor dem Tod hat, hat Angst zu leben. So finde ich das gut auf den Punkt gebracht. Es ist weniger der Sterbeprozess, der mir Angst macht, als eher der weder geistig noch materiell fassbare Zustand des tot-seins. Was heißt das? Wie kann ich sein, wenn ich gar nicht mehr bin? Und wo bin ich dann? Wo sind meine Lieben? Was passiert mit meinem schönen Körper, der so viele Jahre Blut, Sauer- und Nährstoffe durch mein System gepumpt hat, der mich hat wachsen und lernen lassen, mich viele schöne Dinge erleben ließ? Tja, ich weiß – ich mach hier ganz schön ’n Fass auf indem ich all diese existentiellen Fragen stelle. Aber ist es nicht so, dass es bei vielen Dingen im Leben immer wieder um sein vs. nicht sein geht und wir alle nur nicht den Mumm haben darüber zu sprechen? Mir geht es jedenfalls so. I must confess! Ich frage mich, was mit all den schönen Erinnerungen passiert. Diesem riesigen Netzwerk an Erlebnissen, Erfahrungen, atemberaubenden Momenten. Wohin gehen sie? Reißen die Bahnen einfach ab? Die Eiweißverbindungen fallen in sich zusammen, es wird dunkel – das war’s? Seriously? Gibt es nicht so etwas wie ein universelles Backup? Eine riesige Cloud in der ein kollektives Bewusstsein wachsen kann? Mich macht der Gedanke traurig. Es gibt in jedem einzelnen Leben so viele Besonderheiten. Jeder Mensch ist besonders und dann kann niemand die Geschichten nachschlagen oder Lösungen für künftige Generationen und Situationen aus den bisherigen Erfahrungen ableiten. Auch zur kollektiven Lösungsfindung fände ich das seeeeehhr praktisch. Aber naja – Wunschdenken eben. Oder?
Foto Theresa Pewal Artist Portraits
Angst als Chance
Ich fühlte mich so viele Jahre meines Lebens falsch, fehlerhaft, nicht korrekt gebaut nach einem höheren Bauplan. Heute weiß ich, dass ich genau richtig bin. In den banalsten Alltagsszenen schreit dieser Gedanke in mir: „Ich werde sterben – du wirst sterben. Es ist blanker Wahnsinn sich auch nur 1 Sekunde länger anzubrüllen, abzuwerten.“ Manchmal frage ich mich was passieren würde, wenn ich diesen Gedanken wirklich laut rausbrüllen würde? Vermutlich würde ich als hoch psychotisch eingestuft und wieder medikamentös niedergepumpt werden. Ich glaube, dass wir allein durch das Sprechen über den Tod ein kollektives Todesbewusstsein erarbeiten könnten, das uns dabei helfen könnte auch ein gesundes Lebensbewusstsein zu kreieren. „Was wäre, wenn die Person vor mir heute sterben würde?“
Denke nur eine Sekunde diesen Gedanken während du deinem Partner die Schuld für dein Unglück gibst, deinem Chef die verwehrte Gehaltserhöhung übel nimmst, während du deinen Sohn/ deine Tochter mit Schweigen bestrafst, während der jahrzehntelange Streit mit deinem Vater mit erhobener Faust und vibrierenden Nüstern (Nasenflügeln sind gemeint – mir gefällt einfach das Wort Nüstern zu gut) in die 100.000te Verlängerung geht, während du dein Kind anbrüllst, weil es zum vierten Mal am heutigen Tag sein Hemdchen bekleckert hat. „Was wäre, wenn die Person vor mir heute sterben würde? Was wäre, wenn ich heute sterben würde?“ Sollen das die letzten Worte zwischen uns sein? „Ich hasse dich.“ „Du liebst mich nicht.“ „Du bist ein Idiot.“ „Du wirst es nie zu was bringen.“ „Ich bin viel besser als mein Arbeitskollege.“ „Du bist ein egozentrisches Arschloch.“ Ich plädiere für mehr Klartext und weniger Oberflächlichkeit. Und außerdem wäre so ein zwischenmenschlicher shit-storm ganz schön viel Text für die Kondolenz Rede oder einen Grabstein…oder den Urnengraveur.
–> BUCHTIPP:
Bronnie Ware beschreibt in ihrem Buch „5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen“ sehr plastisch, dass es am Ende unseres irdischen Daseins auf die immer selben Kernaspekte hinausläuft. Tage bevor die Menschen, die sie pflegte ihren letzten Atem aushauchten, kamen sie zur Erkenntnis, dass weder Geld, noch Macht oder Status entscheidend dafür waren, ihr Leben als Sinn erfüllt zu betrachteten oder nicht. Es waren die Beziehungen. Die Momente, in denen sie liebten. Die Zeit mit den Menschen, für deren Wohl sie Himmel und Erde in Bewegung gesetzt hätten. Die fünf Dinge auf den Punkt gebracht (Achtung – Spoiler Alarm!):
- Zu wenig sein eigenes Leben gelebt zu haben.
- Zu viel gearbeitet zu haben.
- Zu wenig Zeit für Familie und Freunde gehabt zu haben.
- Zu wenig Gefühle gezeigt zu haben.
- Sich nicht erlaubt zu haben, glücklich zu sein.
Unglück entspringt in mir selbst
Natürlich machen Menschen verrücktes Zeug, sagen schlimme Dinge, handeln nicht nach – meines Ermessens nach – ihrem besten. Aber die Emotion und die Reaktion darauf entstehen in mir selbst. Sie schaukeln sich hoch durch zu langes Schweigen, durch ein klassisch eher feminin zu beobachtendes Na-es-passt-eh-alles, obwohl genau nichts passt, durch Herumgezicke über die ausbleibenden telepathischen Fähigkeiten des Gegenüber: „Merkt er/ sie das denn nicht?“ Nein, in den meisten Fällen können wir nicht Gedanken lesen und/ oder sind so sehr mit uns, unseren inneren Lebenswelten oder dem Alltag beschäftigt, dass wir zwischenmenschlich (un-)feine Interaktionen oder feinstofflich negative Schwingungen nicht am Radar haben. Sag was du wirklich denkst und hör deinem Gegenüber aufmerksam zu.
Unkontrollierte Pferde
So viele Streitigkeiten in meinem Leben resultierten daraus, dass ich mein Ego nicht im Griff hatte. Alle Pferde – im Freud’schen tiefenpsychologischen Sinne – gehen und gingen schon so oft mit mir durch. Mit Schaum vorm Mund und ganz oft mit Scheuklappen. Ich hab’ schon so viele Menschen verletzt, beleidigt, für mein Unglück verantwortlich gemacht. Besonders drei meiner liebsten und innigsten Freundschaften habe ich in den letzten Jahren aufs Spiel gesetzt. Und Leute, falls ihr das hier lest – möchte ich mich bei euch für euer großes Herz bedanken. Ich liebe euch. Danke, dass wir durch viel Geduld, offene Herzen, in langsamen Annäherungen Klartext reden konnten und unsere Beziehungen jetzt wieder heilen. Wir sind uns näher als vorher.
Dächten und sprächen wir alle viel offener über sein und nicht sein, stellten sich viele Fragen nicht: Brauche ich das große Haus? Bin ich begehrenswerter mit der Gehaltserhöhung? Werde ich mich mehr lieben mit 10kg weniger? Bin ich mehr wert, wenn ich als Extremsportler immer ganz oben am Siegerpodest stehe? Täten wir nicht so, als würde irgendjemand auf dieser Welt hier lebend rauskommen oder als würde dieses ewige Aufstehen – sich streiten – irgendeine belanglose Arbeit machen, die uns nicht erfüllt – sich wieder streiten – die Spannungen in der Familie weiter schüren endlos weitergehen. Es endet. Du endest. Also hör auf normal zu sein und komm ein bisschen auf meine verrückte Seite hier. Es fühlt sich zwar alles viel beängstigender und intensiver an auf dieser Seite, aber auch echter und mit der Zeit leichter und schöner. Gemeinsam kriegen wir das hin.
Abschließend gibt’s noch ein Zitat, das mir seit 2012 an gut sichtbarer Stelle täglich Hoffnung gibt. Ich möchts gern mit dir teilen:
„Das klare Todesbewusstsein von früh an trägt zur Lebensfreude, zur Lebensintensität bei. Nur durch das Todesbewusstsein erfahren wir das Leben als Wunder.“ (Max Frisch)
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